Ermittlung und Befristung eines konkreten nachehelichen Aufstockungs- und Erwerbslosigkeitsunterhalt
BGH: Urteil vom 10.11.2010 – XII ZR 197/08
1. Ein umfassender Anspruch auf Aufstockungsunterhalt setzt voraus, dass der Unterhaltsberechtigte eine vollschichtige angemessene Erwerbstätigkeit ausübt oder ihn eine entsprechende Obliegenheit trifft. Vermag der Unterhaltsberechtigte eine solche Tätigkeit nicht zu erlangen, hat er Anspruch auf Erwerbslosigkeitsunterhalt.
2. Bei einer Bedarfsermittlung nach den konkreten Verhältnissen ist eigenes Erwerbseinkommen des Unterhaltsberechtigten zur Ermittlung der Bedürftigkeit nicht gekürzt um einen Erwerbsbonus, sondern in vollem Umfang auf den Bedarf anzurechnen. (Rechtsprechungsänderung!)
3. Der angemessene Lebensbedarf bestimmt sich nach der Lebensstellung, die der Unterhaltsberechtigte ohne die Ehe und damit verbundene Erwerbsnachteile erlangt hätte. Die (besseren) Verhältnisse des anderen Ehegatten sind für den sich nach der eigenen Lebensstellung des Unterhaltsberechtigten bemessenden Bedarf ohne Bedeutung.
Die Parteien sind geschiedene Eheleute und streiten um nachehelichen Unterhalt. Sie heirateten 1982. Aus der Ehe sind 1985 und 1987 zwei Kinder hervorgegangen. Die Scheidung ist seit August 2008 rechtskräftig. Der Ehemann ist Laborarzt und an einer Gemeinschaftspraxis beteiligt. Die Ehefrau ist ausgebildete medizinisch-technische Assistentin (MTA). Sie ist in der Praxis des Ehemanns angestellt, ohne tatsächlich dort zu arbeiten, und bezieht ein Nettoeinkommen von etwa 1.000 € monatlich. Sie bewohnt die ehemalige Ehewohnung. Seinen Miteigentumsanteil an dem Einfamilienhaus hat ihr der Ehemann nach der Trennung übertragen. Die Ehefrau macht nachehelichen Unterhalt geltend und hat diesen ausgehend von den Ausgaben während des Zusammenlebens nach ihrem konkreten Bedarf berechnet. Der Ehemann hat seine Leistungsfähigkeit für den geltend gemachten Unterhalt nicht in Frage gestellt, hat aber die Höhe des Bedarfs bestritten und eine Begrenzung des Unterhalts geltend gemacht.
Das Berufungsgericht ist von einem konkret zu bemessenden Unterhaltsbedarf der Antragsgegnerin in Höhe von monatlich 3.680 € (ohne Wohnbedarf) ausgegangen. An den tatsächlich höheren Ausgaben während des Zusammenlebens könne nicht uneingeschränkt festgehalten werden. Bei der Ermittlung der Bedürftigkeit hat das Berufungsgericht zum einen das Einkommen der Antragsgegnerin aus dem Scheinarbeitsverhältnis angerechnet und dieses sowie das fiktive Einkommen aus einer Nebentätigkeit nach Kürzung um einen Erwerbsanreiz von 1/14 vom Unterhaltsbedarf abgezogen.
Der Anspruch auf Aufstockungsunterhalt setzt voraus, dass der Unterhalt begehrende geschiedene Ehegatte eine angemessene Erwerbstätigkeit ausübt oder aber ausüben kann. Soweit eine Erwerbstätigkeit stattfindet oder – wie im vorliegenden Fall – aufgrund einer Erwerbsobliegenheit stattfinden müsste, ist der Abzug eines Erwerbsanreizes nicht angezeigt. Im Gegensatz zu der vom Halbteilungsgrundsatz ausgehenden Bedarfsbemessung nach Quoten, bei der ein Erwerbsanreiz auf beiden Seiten abgezogen wird, ist dergleichen bei der konkreten Unterhaltsbemessung nicht gerechtfertigt.
Diese unter den Oberlandesgerichten strittige Frage hat der BGH nun unter Bezugnahme auf die Rechtsauffassung des Oberlandesgerichts Köln in der vorliegenden Entscheidung – unter Änderung seiner Rechtsprechung – abschließend entschieden.
Unter Berücksichtigung der unterhaltsrechtlichen Eigenverantwortung bedarf es keiner besonderen Vergünstigung, um den Unterhaltsberechtigten zur Deckung seines Lebensbedarfs durch eigene Erwerbstätigkeit zu motivieren. Außerhalb der Bedarfsermittlung nach Quoten besteht für den Abzug eines Erwerbsbonus auf Seiten des Unterhaltsberechtigten aus Gründen der Gleichbehandlung der Ehegatten keine Rechtfertigung. Der Unterhaltsbedarf des Unterhaltsberechtigten bestimmt sich in diesen Fällen – anders als beim Quotenunterhalt – nicht abhängig vom Einkommen des Unterhaltspflichtigen, sondern entweder nach dem konkreten Bedarf oder nach der eigenen Lebensstellung des Unterhaltsberechtigten.
Mit Hinweis auf das Urteil des Senats vom 20. Oktober 2010 – XII ZR 53/09 (siehe hier) – weist der Senat nochmals darauf hin, dass sich der angemessene Lebensbedarf nach dem Einkommen, das der unterhaltsberechtigte Ehegatte ohne die Ehe und Kindererziehung aus eigenen Einkünften zur Verfügung hätte, bestimmt. Soweit das Berufungsgericht den Lebenszuschnitt während der Ehe herangezogen hat, hat es verkannt, dass der Maßstab des angemessenen Lebensbedarfs sich auf die eigenen Lebensstellung des Unterhaltsberechtigten bezieht und nicht auf den Bedarf nach den ehelichen Lebensverhältnissen. Dieser gewährleistete dem Unterhaltsberechtigten die Teilhabe am höheren Lebensstandard des besser verdienenden Ehegatten, während der angemessene Lebensbedarf lediglich den durch eigene Erwerbstätigkeit möglichen Lebensstandard sichert.
Zur Befristung hat der Senat ausgeführt, dass eine Befristung des Unterhalts nach der zwischenzeitlich gefestigten Rechtsprechung des Senats bei Fortbestehen von ehebedingten Nachteilen nicht in Betracht komme. Ein angemessener Ausgleich sei in diesen Fällen im Wege der Herabsetzung des Unterhalts nach § 1578b Abs. 1 BGB zu finden.
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Schlagwörter: Arzt, Bedarf, Befristung, Begrenzung, BGH, Familienrecht, Unterhalt