Kürzung des Elternunterhalts bei Verletzung elterlicher Pflichten
OLG Karlsruhe, 22.01.2016, 20 UF 109/14
Der Bezirk begehrt aus übergeleitetem Recht von der 1954 geborenen Antragsgegnerin Elternunterhalt für ihre Mutter. Diese war in einem Seniorenheim untergebracht und der Bezirk gewährte Sozialhilfe durch die Übernahme der durch eigenes Einkommen und Vermögen der Mutter sowie die Leistungen der Pflegeversicherung nicht gedeckten Kosten des Heims. Das Amtsgericht hat dem Antrag in vollem Umfang stattgegeben. Gegen diese Entscheidung richtet sich die Beschwerde der Antragsgegnerin.
Das OLG Karlsruhe hat entschieden, dass eine grundsätzliche Unterhaltspflicht der Antragsgegnerin für ihre Mutter bestehe. Der Unterhaltsanspruch sei auch gemäß § 94 Abs. 1 SGB XII auf den Bezirk übergegangen. Auch sei die Antragsgegnerin dem Grunde nach gegenüber ihrer Mutter gemäß §§ 1601, 1602 BGB allein unterhaltspflichtig, da die gleichrangig unterhaltsverpflichteten Geschwister der Antragsgegnerin nicht leistungsfähig seien. Allerdings sei die Unterhaltsverpflichtung gemäß § 1611 Abs. 1 BGB auf 1/3 des rechnerischen Unterhaltsanspruchs beschränkt.
Hintergrund für diese Entscheidung war folgender: Die Antragsgegnerin wuchs als Kind im Haushalt ihrer Eltern mit 4 Geschwistern auf. Im Alter von 12 oder 13 Jahren wurde sie von ihrem etwa 2 Jahre älteren Bruder im gemeinsamen Kinderzimmer vergewaltigt. Sie empfing hierbei ein Kind. Dies wurde erst im fünften oder sechsten Schwangerschaftsmonat offenbar. Nach Einschaltung der Jugendbehörde kam die Antragsgegnerin in ein Mutter-Kind-Heim, wo sie 1967 ihr Kind gebahr. Der Sohn ist schwer behindert. Die Antragsgegnerin kehrte sodann mit ihrem Sohn in den elterlichen Haushalt zurück. Vorwiegend betreut wurde der Sohn durch die Großmutter der Antragsgegnerin und durch die Antragsgegnerin selbst. Dritten gegenüber wurde die Mutterschaft der Antragsgegnerin verheimlicht; es wurde erzählt, das Kind stamme vom Bruder und die Kindesmutter kümmere sich nicht um das Kind.
Deshalb sei nach Überzeugung des Senats der rechnerisch bestehende Unterhaltsanspruch wegen einer vorsätzlichen schweren Verfehlung der Mutter gegenüber der Antragsgegnerin gem. § 1611 Abs. 1 S. 1 BGB zu kürzen. Diese Kürzung betrage nicht lediglich – wie vom Bezirk bereits zugestanden – 40 %, sondern insbesondere wegen der schweren Folgen der Verfehlung für die Antragsgegnerin 66,6 % (2/3). Ein gänzlicher Wegfall der Unterhaltsverpflichtung gemäß § 1611 Abs. 1 S. 2 BGB sei jedoch nicht anzunehmen. Der Senat stellt klar, dass die die Eltern der Antragsgegnerin, nachdem sie ohne jedes eigene Verschulden durch die Vergewaltigung und Schwangerschaft in höchstem Maße traumatisiert und durch die Geburt des Kindes in einer psychisch und praktisch schwierigsten Lage war, als elterliche Pflicht fürsorgliche Zuwendung, Gespräch und Verständnis schuldeten. Diese Pflicht sei hier von ihnen schwer verletzt worden. Denn die Antragsgegnerin habe sich nach Bekanntwerden der Schwangerschaft zunächst massiven Vorwürfen ausgesetzt gesehen. Sie sei von der Mutter angeschrien worden, weil sie „Schande über die Familie gebracht“ habe, und zunächst sogar zur „Strafe“ eingesperrt worden. Zudem musste sie die Endphase der Schwangerschaft und die Geburt ihres Kindes ohne elterlichen Rückhalt im Mutter-Kind-Heim bewältigen, erläutert der Senat weiter. Dies sei als gravierende, besonders vorwerfbare Verfehlung der Eltern anzusehen. Nach der hier vom OLG Karlsruhe vertretenen Ansicht kann sich die Verletzung elterlicher Pflichten, auch soweit sie in einem Unterlassen besteht, als Verfehlung gegen das Kind darstellen (BGH, Urteil vom 19.05.2004 – XII ZR 304/02). Dass die zum Elternunterhalt Verpflichtete in den 60er Jahren von ihren Eltern nicht einer Psychotherapie zugeführt wurde, ist nach Ansicht des Gerichts jedoch nicht als vorsätzliche schwere Verfehlung im Sinne des § 1611 Abs. 1 S. 2 BGB zu werten. Auch hält es das Gericht vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Anschauungen der 1960er Jahre nicht für individuell den Eltern als vorsätzliche Verfehlung vorwerfbar, dass sie die Herkunft des Kindes der Unterhaltspflichtigen gegenüber Dritten verheimlichten und stattdessen eine „Legende“ benutzten.
Das OLG hat hier die Rechtsbeschwerde zum Bundesgerichtshof im Hinblick auf die rechtliche Bewertung der Versäumnisse der Mutter im Rahmen des § 1611 BGB zugelassen.
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