Es besteht keine epidemische Lage von nationaler Tragweite mehr
Zusammenfassung der Stellungnahme von Prof. Dr. Thorsten Kingreen von Prof. Dr. Thorsten Kingreen von der Universität Regensburg, Fakultät für Rechtswissenschaft, Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Sozialrecht und Gesundheitsrecht, vom 02.09.2020.
Diese lag seiner öffentlichen Anhörung als Einzelsachverständiger im Gesundheitsausschuss des Deutschen Bundestages am 09.09.2020 u.a. zu dem Gesetzentwurf der FDP-Fraktion zur Weitergeltung von Rechtsverordnungen und Anordnungen aus der epidemischen Lage und dem Antrag auf Beendigung der epidemischen Lage von nationaler Tragweite zugrunde.
Antrag „Epidemische Lage von nationaler Tragweite beenden“
Die Feststellung einer „epidemischen Lage von nationaler Tragweite“ durch den Deutschen Bundestag nach § 5 Abs. 1 S. 1 Infektionsschutzgesetz (IfSG) setzt eine systemische Gefahr für die „öffentliche Gesundheit“, d.h. für die Gesundheitsinfrastrukturen und damit für die Versorgung der Bevölkerung voraus. „Öffentliche Gesundheit“ ist ein kollektives Rechtsgut, das von der individuellen Gesundheit zu unterscheiden ist. Es geht nicht um den Einzelnen, sondern um die Infrastrukturen, die seine Gesundheit schützen. Die Gefahr für die öffentliche Gesundheit war zum Zeitpunkt des Beschlusses am 25.03.2020 gegeben, liegt aber aktuell nicht mehr vor. Auch das RKI geht derzeit nicht von einer systemischen Gefahr aus, die die Infrastrukturen des Gesundheitswesens überfordern könnte.[1]
Der Feststellungsbeschluss muss nach § 5 Abs. 1 S. 2 IfSG wieder aufgehoben werden, weil seine tatsächliche Voraussetzung, die Gefährdung der „öffentlichen Gesundheit“, nicht mehr vorliegt. Die Aufhebung des Beschlusses ist verfassungsrechtlich von besonderer Bedeutung, denn: Die durch den Feststellungsbeschluss ausgelöste Ermächtigung des Bundesministers für Gesundheit, nach näherer Maßgabe von § 5 Abs. 2 IfSG in Rechtsverordnungen „Ausnahmen“ und „Abweichungen“ von nicht näher eingegrenzten Parlamentsgesetzen vorzusehen, ist nämlich verfassungswidrig.
Gemäß Art. 80 Abs. 1 S. 1 GG können Gesetze zum Erlass von Rechtsverordnungen ermächtigen, wenn sie gemäß Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG Inhalt, Zweck und Ausmaß der erteilten Ermächtigung bestimmen. Art. 80 Abs. 1 GG steht im historischen Kontext der „leidvollen Erfahrungen deutscher Verfassungsentwicklung“[2] und fungiert als „bereichsspezifische Konkretisierung des Rechtsstaats-, Gewaltenteilungs-[…] und Demokratieprinzips“[3]. Er sollte „der ‚Ermächtigungsgesetzgebung‘ einen Riegel vorschieben und eine geräuschlose Verlagerung der Rechtsetzungsmacht auf die Exekutive sowie die damit verbundene Veränderung des Verfassungssystems verhindern.“ [4]
Die Ermächtigungsgrundlagen in § 5 Abs. 2 S. 1 IfSG erlauben ohne jede Differenzierung Ausnahmen und Abweichungen von allen Normen der dort bezeichneten Gesundheitsgesetze. Gesetze, die ein Ministerium weitgehend schrankenlos nicht nur konkretisieren, sondern auch aufheben kann, lassen sich aber mit dem Maßstab der Bestimmtheit i.S.v. Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG nicht mehr erfassen. [5]
Die Rechtsverordnungsermächtigungen erzeugen den fatalen Eindruck eines Ausnahmezustands, der nicht in den üblichen, von der Verfassung zur Verfügung gestellten Formen und Verfahren bewältigt werden kann. Es müssen § 5 Abs. 2 S.1 und § 5a Abs. 2 IfSG dringend abgeändert werden. Solange diese Normen nicht verändert werden, bleibt es bei dem verfassungsrechtlich fatalen Eindruck eines sich verstetigenden Ausnahmezustands auch über diese Legislaturperiode hinaus.
[1] Vgl. den Situationsbericht vom 30.08.2020, https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Situationsberichte/Gesamt.html
[2] Fritz Ossenbühl, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts Bd. V, 3. Aufl. 2007, § 103 Rn. 2.
[3] BVerfG, 19.09.2018 – 2 BvF 1/15, 2 BvF 2/15 = BVerfGE 150, 1, 100.
[4] Fritz Ossenbühl, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts Bd. V, 3. Aufl. 2007, § 103 Rn. 2.
[5] Möllers VerfBlog, 2020/3/26, https://verfassungsblog.de/parlamentarische-selbstentmaechtigung-im- zeichen-des-virus/.
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